Samstag, 5. Juli 2014

Meine Schulzeit in der ehemaligen UdSSR

Meine Schulzeit in der ehemaligen UdSSR

Ich mochte es, zur Schule zu gehen. Eingeschult wurde ich mit 6, im November wurde ich 7. Anfänglich langweilte ich mich mächtig, weil das Lernen von ABC war ja überflüssig für mich. In der Klasse saßen Kinder von deportierten Eltern: Es waren Esten, Letten, Litauer, Wolgadeutsche, Tataren, Kalmücken, Ukrainer, Weißrussen und andere mehr. Sie hatten es mit der russischen Sprache und Grammatik nicht einfach. Man ist miteinander sehr behutsam umgegangen. Mein Vetter saß schon das 4. Mal in derselben Klasse, weil er mit dem Lesen keine Fortschritte machen konnte. Die Lehrerin kannte keinen Umgang mit Legasthenikern. Es war seltsam: Der Großvater war selbst Lehrer, aber sein Sohn konnte weder schreiben noch lesen. Auch er war mit diesem Problem überfordert.

Unsere Eltern mussten bis 1956 sich einmal im Monat bei der Kommandantur melden.
An den langen Winterabenden saßen wir Kinder zu Füßen von den alten Wolgadeutschen, die uns von ihrem Schicksal erzählten. Im Unterschied zu den Wolyniendeutschen, die im 19. Jahrhundert in die Ukraine kamen, folgten die Vorfahren der Wolgadeutschen der Einladung von Katharina II. bereits in den Jahren 1763 bis 1767 und besiedelten die Gebiete des alten Zarenreichs. Das Zentrum der Wolgadeutschen war zuerst die Stadt Pokrowsk (zeitweise Kosakenstadt, seit etwa 1931 bekam die Stadt den Namen Engels.) Sie kamen überwiegend aus Bayern, Baden, Hessen, der Pfalz und dem Rheinland und  gründeten etwa einhundert Dörfer.

Katharinas Regierung hatte politische Ziele mit den deutschen Siedlern.
Sie sollten nämlich die Steppengebiete an der Wolga kultivieren und die Attacken der Reitervölker aus den Nachbargebieten eindämmen. Sie entwickelten eine blühende Agrarwirtschaft in Russland. Stalin requirierte bzw. beschlagnahmte ihr Getreide und verkaufte es im Ausland. Viele der Siedler starben vor Hunger. Die kommunistische Regierung wollte jedoch die Wolgadeutschen in den sowjetischen Staat integriert wissen und ließ am 6. Januar 1924 die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen gründen. Sie bestand bereits seit 19. Oktober 1918 als sowjetische Arbeitskolonie. Die Regierung erahnte den Profit, den der sowjetische Staat durch den Fleiß der Deutschen erwirtschaften konnte, und machte Nägel mit Köpfen. Es war ein kluger Schachzug. Die Hauptstadt dieser Republik war Marxstadt (ehemals Baronsk bzw. Jekaterinenstadt zu Ehren der Katharina II.) Die Wolgadeutschen wurden nach Beginn des 2. Weltkrieges gemäß dem Erlass des Obersten Sowjets vom 28. August 1941 nach Sibirien, Kasachstan und in den Ural deportiert. Denn sie wurden der kollektiven Kollaboration mit Nazi-Deutschland beschuldigt und nach Sibirien und Zentralasien verschleppt. Erst am Ende der politischen Tauwetterperiode 1956-1964 wurden sie offiziell vom Vorwurf der Kollaboration befreit. Sie alle hatten bis 1956 strenge Meldepflicht und Ausgangsbeschränkungen.

Irgendwie und aus unbekannten Gründen musste meine Mutter das auch tun. Mein Großvater war Ostpreuße, aber er war schon vor dem Krieg samt Familie nach Sibirien verschleppt worden und wurde anders behandelt; er musste sich bei den Sicherheitsbehörden nicht melden. Die Deportierten aus baltischen Ländern und Kaukasus standen unter dem Verdacht, mit den deutschen Besatzungsmächten kollaboriert zu haben, und wurden besonders streng überwacht. Einmal im Monat sammelten sich die Mütter und alte Männer auf dem Dorfplatz und marschierten acht Kilometer zu Fuß bis zum Kommandanten. Ich erinnere mich noch gut, wie ängstlich meine Mutter der Meldepflicht gegenüberstand.

In der Schule hatten wir es häufig lustig miteinander. Die meisten Kinder, deren Eltern aus Baltikum kamen, konnten sehr schlecht Russisch sprechen. Das amüsierte die anderen, die mit Russischkenntnissen aufgewachsen waren. Jedoch anstandshalber halfen wir ihnen soweit wie nur möglich, sich entsprechend auszudrücken. Der Großvater eines Kindes namens Erbes sprach kein gutes Russisch und sein Deutsch hatte einen schwäbischen Dialekt, das man heute in Baden-Würtemberg in etwa spricht. Der alte gutmütige Erbes, dessen zweite Sohn Dorfvorsteher wurde und Mitglied der KPSS war, kam im Herbst eines Tages in die Verwaltung der Dorfzentrale angelaufen und meldete dem Agronomen Gurjew mit lauter Stimme: „Genosse Kurva! Das Feld wird vom Feuer aufgefressen!“ In Russisch und Polnisch ist das Wort „Kurva“ ein Schimpfwort und meint die Prostituierte. Der Agronom war sehr lieb und wurde auch geschätzt, aber diesen „Nicknamen“ wurde er bis zu seinem Lebensende nicht mehr los. Das war wohl das erste Unwort, das ich je als Kind kennenlernte.

Vielen Klassenkameraden leistete ich Unterrichtshilfe in Russisch. So machte ich mir viele Freunde. Ich war ein sehr auf Harmonie bedachter Junge. Schreie der Lehrerin Nina betäubten meine Ohren, die ich mit beiden Händen zuhielt. Nicht immer war ich nett in der Klasse. Aus Langeweile im Unterricht verknotete ich Zöpfe der Mädchen miteinander, die vor mir saßen. Sie ließen sich das nicht gefallen und gingen mit ihren Fäustchen auf mich los. Die strenge Lehrerin stellte mich deswegen mit Recht in die Ecke. Nina ließ auch meine Mutter  in die Schule kommen . Mutter war immer schwermütig, aber nie depressiv. Sie las mir unter Tränen  die Leviten. Ich versuchte mich, bei Mutter anzuschmeicheln und sie milde zu stimmen. Das gelang mir auch. Sie ließ mich dann in Ruhe. Streng war Mutter nie. Auch die Lehrerin hatte Mitleid mit uns; es stand ihr in den Augen geschrieben und darum wurde sie von allen respektiert.


Im Winter war es in Westsibirien sehr kalt. Ich hatte damals weder Schuhe noch Filzstiefel. Darum wickelte ich meine Beine und Füße in Fußlappen, befestigte sie mit irgendeiner Schnur, zog Mutters Gummistiefel an und lief im tiefen Schnee bei minus 30 zur Schule. Ich hatte weder eine Pelz- noch Wattejacke. Mutter fand einen roten dicken Stoff und nähte für mich eine Wattejacke. Als ich draußen mit dieser Jacke spazierte, löste meine Jacke Spott und Hohn aus. Man nannte sie „Kommunistenjacke“. Dieses Belächeln ertrug ich nicht. Ich warf sie zu Hause auf Mutterschoß und weinte. Mutter sagte mit trauriger Stimme: „Mein lieber Sohn, ich habe das Geld nicht, dir eine neue Wattejacke zu kaufen.“ Tante Gertrud und Onkel Gustav konnten dieser Szene nicht tatenlos zusehen. Am nächsten Tag hatte ich eine neue Jacke. Sie war zwar zu groß für mich, aber die beiden dachten praktisch und sagten: „Du wirst noch wachsen, aber bis dahin hast Du es im Winter warm.“ Ich war ihnen dafür unendlich dankbar.

Ich durfte manchmal mit der Familie meiner Tante Mittagessen. Ich kämpfte immer während des Mittagsessens mit totaler Müdigkeit und Schlaf. Manchmal kippte ich auf die Bank und schlief einfach ein. Tante Gertrud sagte Mutter, sie sollte mich unbedingt  ins Krankenhaus bringen und meine Leberwerte überprüfen lassen. Sie tat es auch. Die Ärztin hatte in Asow keine Möglichkeit, Blutuntersuchungen zu machen. Wir kamen ohne ein Ergebnis nach Hause. An Gelbsucht konnten wir uns nie erinnern.
Mit 10 ging ich zur Schule Ruslanowka, der Ort war von unserem Dorf drei Kilometer entfernt. (Ruslanowka  gehört heute zu dem deutschnationalen Rayon Asowo, Omsk Gebiet, Russland). Wir mussten früh morgens durch einen dichten Wald im tiefen Schnee marschieren. Es war nicht immer schön, weil im März beobachteten wir ganze Wolfsrudeln. Sie waren ziemlich hungrig und wir waren ein willkommenes Fraß für sie. Man drückte uns Fackeln mit Streichhölzer in die Hände und empfahl, bei Begegnung mit den Tieren eine Fackel anzustecken und somit die Wölfe abzuschrecken. Uns wurden erschreckende Geschichten erzählt, wie ein Wolfsrudel eine Lehrerin getötet und gefressen haben sollte. Sicherheitshalber gingen wir als Gruppe zur Schule und uns passierte nie etwas Gefährliches.

Ich war dreizehn und das erste Mal verliebt, und zwar in die Lehrerin Rimma. Die Direktorin verriet uns, dass ihr Name in Hebräisch „Weiße Antilope“ oder auch „Apfel“ bedeutet. Rimma war Jüdin. Sie unterrichtete Biologie und Erdkunde. Ihr liebevoller trauriger und penetranter Blick verriet uns ein unendliches Leid, das sie im Verborgenen hatte. Sie war damals nur 22 Jahre alt. Wir wussten, dass Rimmas Eltern Ärzte waren und im Krieg ums Leben kamen. Sie wuchs im Kinderheim auf. Sie schien absolut nicht, auf Männer aus zu sein. Meine Gefühle sagten mir, dass sie innerlich zerrissen war, aber in meinem damaligen Alter, Rimmas Zustand zu analysieren, war für mich unmöglich. Sie wies alle Avancen der Männer zurück und lebte allein und zurückgezogen in dem Schulgebäude. Das Lehren war ihre einzige Erfüllung.

Ich war damals in der siebten Klasse, als Rimma mich in ihr Quartier einlud. Ich hatte derartiges Herzklopfen, das mir das Herz im Halse stecken blieb. Sie setzte mich an den Tisch, auf dem ein Samowar stand. Sie bot mir Schwarztee an. Mit zitternden Händen nahm ich den Becher mit Tee und schlürfte ihn. Sie guckte mich nachdenklich an und sagte: „Du bist ein guter Junge. Ich weiß, was Du für mich empfindest. Du steckst in der „Pubertätsphase“. Zum ersten Mal hörte ich das Wort Pubertät und wusste immer noch nicht dessen Bedeutung. Sie muss wohl meine Unkenntnis erkannt haben und erklärte: „Du steckst im männlichen Reifungsprozess. Du wirst nach diesem Prozess ein richtiger Mann. Du bist in mich verliebt“. Sie sagte es sehr bestimmend, als wenn sie keine Widerrede von mir erwartete. Ich saß wie eine Mumie ihr gegenüber, völlig weggetreten und hörte nur noch Fetzen von dem, was sie sagte. „Ich habe schlechte Erfahrungen mit Männern gemacht. Aber wenn Du in meinem Alter wärst, wäre ich nicht abgeneigt, mit dir befreundet zu sein.“ Wie im Rausch verließ ich ihr Zimmer und lief nach Hause. Niemand sollte von diesem Gespräch erfahren. Nachhinein kann man wohl schlussfolgern, dass ich von gemischten Gefühlen des Mitleids und Respekts angetrieben wurde und das blieb nicht verborgen. Sie war eine exzellente Lehrerin. Wir liebte sie sehr.

Es werden Jahre vergehen und Rimma wird mir vor ihrem Selbstmord einen Zettel  hinterlassen: „Ich wurde vom Leiter des Waisenhauses mehrmals vergewaltigt. Er ist ein Kriegsveteran und Oberst. Ich kann damit nicht leben. Bete für mich“. Ich bekam diesen Zettel nach meiner ersten Entlassung aus der Haft von der Schuldirektorin zugesteckt und trauerte grenzenlos.

Ich stand damals unter ständiger Beobachtung des KGB.
„Warum hast Du mit niemand darüber gesprochen?“, murmelte ich am Rimmas Grab. Sie muss gewusst haben, dass in den sowjetischen Straflagern die Kinderschänder ohne Erbarmen von Kriminellen umgebracht wurden. Sie erstattete keine Anzeige: Entweder aus Mitleid mit Täters fünf Kindern oder aber hatte sie Zweifeln daran, dass man ihr glauben würde. Ich empfand unerklärlicherweise Schuldgefühle, obwohl ich ihren Selbstmord ja gar nicht hätte vorbeugen können. Ich war zurzeit ihres Selbstmordes Tausende Kilometer von ihr entfernt in den Uranminen der Straflagers 154/57.


Ab 4. Klasse gab es an den sowjetischen Schulen mündliche und schriftliche Abschlussprüfungen, darum versuchten wir, gründlich zu lernen. In der siebten Klasse waren die mündliche Prüfungen in allen Fächern. Selbst Fragen aus den Schulfächern wie Algebra und Zeichnen mussten wir stehend vor und an der schwarzen Tafel mündlich und schriftlich beantworten. Schabernack trieben die meisten von uns, aber es war mehr oder weniger harmlos gewesen. Die meisten von uns waren in der Pubertät und rauchten in die „Wette“ in der öffentlichen Toilette der Schule. Rauchen war uns nicht erlaubt, aber die Direktorin Drabkowa drückte ein Auge zu und ließ uns die Freiheit. Wir und sie waren ja alle betroffen von den Folgen der Deportationen und man ging umsichtig miteinander um.

Trotz aller Erkenntnisse über Gott, Ethik und Moral, die ich mir später aneignete, begann ich recht früh zu rauchen. Mein Opa Eduard rauchte die Pfeife. Er gab sie mir, als ich fünf war und sagte: „Zieh den Rauch tief ein und sage: ‚Oh, Mami.’“Dieser Spaß hatte verhängnisvolle Folgen für mich. Zuerst begann ich heftig zu husten, aber doch etwas später wurde ich zum heimlichen Raucher. Mein Vetter Johann war auch Raucher. Wir wohnten im selben Haus. Johann kaufte jeweils bis zu 120 Schachteln Papirossen, eine Zigarettenart. Sie hatten ein längeres Pappmundstück und der äußere Teil des Röhrchens war mit starkem, kurzfaserigem Presstabak (Machorka) gefüllt. Johann war kurzsüchtig und merkte anfangs nicht, dass ich mitrauchte. Er wunderte sich nur, dass sie zu schnell verbraucht wurden. „Hätte ich einen Vater gehabt, dann würde er mir das Rauchen verbieten“, dachte ich manchmal. Aber dann sah ich auf Johann, der ein starker Raucher und Trinker bereits war, dazu noch Mitglied der kommunistischen Partei und gab mir selbst eine Antwort: „Er hätte es auch nicht verhindern können.“ Ich wunderte mich nur, dass Mutter es nicht merkte. Denn mein Hemd roch ja nach Tabak. Sie hatte wohl andere Sorgen.

Keinen Spaß machte es uns, als die Direktorin alle Schüler in einen größeren Schulraum einlud und sagte: „In dem Kulturgebäude findet ab Morgen ein Gerichtsprozess gegen drei Männer statt. Ihr seid alle drei Tage von der Schule befreit, aber ihr müsst dem Prozess beiwohnen und mir einen schriftlichen Bericht darüber einreichen.“ Sie ließ uns nach Hause gehen. Wir hatten ein mulmiges Gefühl, als wenn das anstehende Gerichtsverfahren uns selbst treffen würde. Wir hörten nie bevor von der Verhaftung der jeweiligen drei Männer.

Am nächsten Tag waren wir zur Stelle und füllten das Kulturgebäude, übrigens von allen auch Klub genannt. Es schien, als wenn alle Bewohner der Nachbardörfer präsent waren. Um zehn kam die Richterin und ein Gefängniswagen blieb im Hof stehen. Es war schon seltsam, dass die Richterin zuerst den Saal betrat. Links und rechts von mir saßen Nelli und Lydia Ljutzew, sie waren Schwestern. Ihre Mutter war Russin, Vater Deutscher. Als Vater festgenommen und in das Arbeitslager von Workuta deportiert wurde, ließ sich ihre Mutter von ihm scheiden. Die Scheidung ersparte ihr die Deportation nach Sibirien nicht. Sie heiratete in Ruslanowka einen Russen. Ihre Töchter waren sehr aufgeweckte Mädchen. Nelli war mit mir in einer Klasse, Lydia zwei Klassen über uns. Lydia flüsterte mir ins Ohr: „Guck, wie nervös die Richterin ist. Ihre Finger zittern ja.“ Ich reagierte: „Möglicherweise ist es ihr erster öffentlicher Prozess, den sie zu führen hat.“ Lydia kommentierte sarkastisch: „Sie trinkt wohl zu viel Wodka!“ „Halt den Mund, Schwester“, monierte die jüngere Nelli. Wir hörten das Klappern der Finger der Richterin auf ihrem Tisch. Dann stand sie plötzlich auf und ging zur Seitentür raus. Währenddessen wurden die drei Männer reingeführt und zur Anklagebank gebracht. Wir erkannten sie sofort und waren konsterniert. Die Kinder dieser Väter waren unsere Schulkameraden. Wir guckten uns um. Wir sahen unsere Direktorin und Lehrer nicht. Nicht einmal der Deutschlehrer Schlegel, ein Wolgadeutscher, war anwesend. Die Familien der Angeklagten waren auch im Saal.

Plötzlich hörten wir eine laute Stimme des Milizbeamten: „Aufstehen! Das Gericht kommt!“ Die Richterin und noch zwei Personen betraten den Saal. Wir standen auf und die Richterin stand auch mit den jeweiligen Personen am Tisch, guckte auf die Angeklagten und befahl uns, Platz zu nehmen. Dann setzten sich auch die drei Angeklagten. Ich habe die Namen der Angeklagten nicht einmal in meinen Tagebüchern gefunden. Der Prozess begann mit der Lesung der Anklageschrift, die um eine Stunde gedauert hatte. Die Männer hätten ein junges Schwein in der Kolchose XY entwendet, das zwanzig kg wog, im Ganzen im Wald gegrillt, in drei Teile zerteilt und nach Hause gebracht. „Sie verspeisten das Tier mit ihren Familien,“ glaube ich, aus der Lesung der Anklageschrift gehört zu haben. Ich guckte auf einen der Söhne des Angeklagten. Dieser lächelte und schleckte sich die Lippen. Lydia sagte halblaut: „Mir läuft auch das Wasser im Mund zusammen.“ Sie guckte sich um und sagte einem der Söhne des Angeklagten: „Du Glückspilz!“ Alle lachten im Saal. „Ruhe!“ das Klopfen der Faust der Richterin war eindeutig; sie war sichtlich verärgert. Nach der Anklageverlesung räumte man eine einstündige Pause ein.

Lydia fragte uns: „Warum dauerte es so lange? Der Ankläger hätte doch sagen können, die Männer haben ein Spanferkel geklaut und das wär es auch.“ Es wurde viel getuschelt und geredet, aber wir setzten uns zu dritt auf eine Bank und unterhielten uns über die Prüfungen. Die Abschlussprüfungen waren ziemlich komplex. Erst während der Prüfung wurde einer von uns zur Tafel gebeten. Man nahm ein Prüfungsticket- bzw. Zettel vom Tisch der Lehrerin/des Lehrers, öffnete ihn und las die Fragen vor. Keiner von uns kannte die Fragen. Wir mussten einfach in allen Fächern fit sein. Wir waren etwas nervös, aber wir versuchten, einander Mut zuzusprechen.

Die Pause war nun vorbei und wir wurden gerufen, das Gebäude zu betreten und Platz zu nehmen. Die übliche Prozedur mit Aufstehen nach Erscheinen der Richterin war schnell vorüber. „Bürger Angeklagte, fühlen sie sich gemäß der Anklage schuldig“, fragte die Richterin. „Unschuldig, „reagierte halblaut Lydia: „Es hat den Kindern köstlich geschmeckt.“ Die es hörten lachten wieder. Die Angeklagten antworteten in Unisono und stehend: „Schuldig, Bürgerin Richterin!“ „Solch ein Quatsch mit Bürger und Bürgerin,“ reagierte Lydia: „Warum nicht Genossin und Genossen?“ Die Richterin hörte das und antwortete: „Liebe Kinder! Die Angeklagten sind durch ihr Verbrechen kein Teil unserer sozialistischen sowjetischen Gesellschaft mehr. Dieses Recht haben sie durch ihre Tat verwirkt. Sie werden es durch Arbeiten in einer
Besserungsarbeitskolonie wieder verdienen müssen.“ Sie erklärte das sehr ruhig mit einem schulmeisterischen Unterton. Lydia nickte. Die Richterin fragte die Angeklagten: „Tut es ihnen Leid, dass sie das sozialistische Eigentum des Volkes gestohlen und verzehrt haben?“ Einer der Angeklagten stand auf und sagte: „Aber Bürgerin Richterin, es war doch auch Teil unseres Eigentums. Die Kinder haben seit Jahren kein Fleisch gegessen und freuten sich, nach einer so langen Zeit sich den Magen mit Schweinefleisch vollzuschlagen.“ Im Saal herrschte totale Stille. Was nun, Frau Richterin, hätte es bedeuten können. Die Richterin meinte nachdenklich: „Wenn jeder von uns sich etwas von diesem Eigentum nehmen würde, dann könnte unser Staat verarmen.“ Lydia flüsterte mir ins Ohr: „So ein Paradox! Kannst Du den Widerspruch verstehen?“ Ich flüsterte zurück: „Ja und nein. Lass uns in der Klasse darüber diskutieren.“ Jedenfalls wurden die Männer noch am selben Tag zu je drei Jahren Freiheitsentzug verurteilt, zum Gefängniswagen gebracht und ins Gefängnis der Stadt Omsk abtransportiert.

Sicher waren wir Kinder sehr von diesem Geschehen beeindruckt. Noch niemals hatten wir einer Gerichtsverhandlung beigewohnt. Noch niemals hörten wir, dass ein Richterspruch im Voraus feststand. Mir kam es vor, als wenn meine Mutter verurteilt worden wäre, weil sie mir in ihrem Busen ein Fläschchen voll Milch versteckt mit nach Hause nahm, die sie einer „kollektiven“ Kuh abnahm. Ich kam nach Hause und sagte zu ihr: „Mutter, Du musst nie wieder es machen. Ich komme auch ohne Milch aus. Tante Gertrud hat eine Kuh und sie versprach, mir hin und wieder Milch trinken zu geben.“ Ich empfand mich wie ein Milchkalb, das nur von Milch und Brot hätte auskommen können. Mutter saß auf der Bank des Vorderraums unserer Hütte und weinte vor sich hin. Dieses stille, leise Weinen brach mir das Herz und erfüllte mich mit Wut und Groll gegen das jeweilige totalitäre Regime. Ich musste mich wieder unter die Kontrolle bringen. Anderenfalls wäre ich mit dreizehn zu einen Rebellen und Hooligan  geworden. Ob das Regime auch wirklich an allem Übel schuld hatte? Wer vermag das zu sagen?

In den freien zwei Tagen sollten wir einen Bericht über den Verlauf des Gerichtsverfahrens für die Direktorin schreiben. Am ersten Tag war mein Schulheft mit zwölf Seiten voll. Am nächsten Tag kam Tante Lisa zu uns und las auf meine Bitte hin alles durch. Sie nahm mich um die Schulter und führte mich raus in den Wald, der an unserem kleinen Garten grenzte. Sie hielt das Heft in der Hand. „Mein lieber Neffe, ich glaube, durch dieses Schreiben bringst du uns alle hinter Schloss und Riegel.“ „Was soll ich denn tun? Ich habe doch versucht alles, aus der Sicht eines Schüllers das Gerichtsverfahren darzustellen“. „Schreibe, Hermann, einen einzigen Satz: ‚Die drei Männer wurden wegen des entwendeten Milchferkels zu je drei Jahren Freiheitsentzug verurteilt.’ Nichts mehr, bitte! Glaube mir, die Direktorin meint es gut, aber hinter dieser Aufgabe steht der KGB, der wissen will, wie und was die Verwandten der Schüler über diesen Fall denken. Lass uns hier auf dieser Wiese dein Heft verbrennen.“ Inmitten unseres Wäldchens war eine kleine Wiese, die von Birken- und Espenbäumen umgeben war. Tante Lisa nahm Streichhölzer, zündete das Heft an und wartete, bis es ganz verbrannt war. Die Asche zertrat sie mit ihren Schuhen. Bevor sie in ihre Wohnung zurückkehrte, sagte sie noch: „Ich möchte keine Fragen deiner Mutter und von anderen beantworten. Pass auf dich auf, Hermann. Ich mache mir so meine Gedanken über dich. Du liest eine Menge Bücher. Du lebst so viel wie gar nicht in der realen Welt. Das kann dir zum Verhängnis werden, auch wenn Stalin bereits tot ist. Übrigens, unser einziger Bruder, den unser Vater bei der Jagd versehentlich erschoss, ist durch Lesen von philosophischen Büchern beinahe durchgedreht. Reduziere deine Lesesucht.“ ich nickte und ging nachdenklich in den Garten, die letzten Karotten bzw. Mohrrüben rauszureißen und brachte sie der Mutter. Sie guckte mich verwundert an und schwieg. Sie erwartete es von mir nie, weil ich mich nur für das Jäten zwischendurch interessierte. Sie fragte auch nicht, wo das Heft verblieben ist.


Lydia Ljutzew erging es ähnlich wie mir, aber ihre Mutter handelte ähnlich wie Tante Lisa. Nur unsere brave Nelli hatte eine Seite beschrieben voll Lobes an die glorreiche kommunistische Partei und an die Richterin. Sie war die Einzige, die ihr Schrieb zurückbekam. Die Direktorin kam am Schluss des Unterrichts mit unseren Aufgaben in der Hand in die Klasse. Sie guckte lange auf uns und fragte endlich: „Habt ihr euch alle geeinigt, nichts Negatives über die Gerichtsverhandlung zu schreiben?“ Wir schwiegen, guckten einander schelmisch an und lächelten. Sie stand dann auf und ging zur Tür. An der Tür drehte sie sich zu uns und folgerte: „Ihr habt klug gehandelt, aber eure Meinung muss ich weiterleiten.“ So blieb die Schule mir in Erinnerung. Es gab schlechte, aber auch sehr schöne Momente in meiner Schulzeit.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen